Die Ökonomie des Schenkens. Joseph Beuys, Polentransport 1981
"In den Jahren 1980-1981 schufen die Polen eine gigantische „soziale Plastik“ aus zehn Millionen Elementen." - "Solidarnosc " in den Augen von Joseph Beuys.
Veranstaltungsdetails
Um es mit der Begrifflichkeit von Joseph Beuys zu formulieren: In den Jahren 1980-1981 schufen die Polen eine gigantische „soziale Plastik“ aus zehn Millionen Elementen – „antisozialistischen Elementen“, wie die kommunistische Propaganda sie nannte. Gemeint war die „Solidarność“, die erste unabhängige, das heißt nicht von einem totalitären Regime kontrollierte Gewerkschaft zwischen Eisenach in der DDR und Wladiwostok in der UdSSR. Von den zahlreichen anderen Ländern unter kommunistischer Herrschaft ganz zu schweigen – China, Nordkorea, Kambodscha …
Joseph Beuys war nicht nur Künstler, sondern auch politischer Aktivist. Vor allem war er ein erbitterter Kritiker der beiden damals herrschenden und miteinander konkurrierenden Systeme. Er glaubte an die Möglichkeit eines dritten Wegs, der frei wäre von den Irrtümern und Fehlern des Kapitalismus und des Kommunismus, die beide – allen großen Erklärungen zum Trotz – keine Lösungen für die grundlegenden geistigen und materiellen Probleme der Menschheit anzubieten hatten. Beuys engagierte sich in den Debatten darüber, wie dieser dritte Weg aussehen könnte. Ihm schwebte ein System vor, das auf der Selbstbestimmung und Selbstorganisation freier und bewusster Individuen beruhte. Eine ausgewogene Synthese aus Kommunismus und Kapitalismus. Eine Kritik der bislang bestehenden Institutionen. Das Streben nach der Entwicklung einer individuellen Identität aus dem Gefühl der Verwurzelung im Lokalen, in kleinen Gemeinschaften, in der Familie, in der Berufsgruppe, aber auch in der Religion.
Das Aufkommen der „Solidarność“ war für Beuys nicht nur ein klares Omen für den Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur, sondern auch Verheißung einer neuen Wirklichkeit. In der vor allem von Arbeitern geschaffenen Bewegung sah er eine Verkörperung des dritten Wegs: die Suche nach einem Kompromiss, ein Versuch, den Kommunismus zu überwinden, der gleichwohl die sozialen Errungenschaften bewahren wollte und auf einem starken Bewusstsein für Gemeinschaft und Tradition fußte. Das Wirken der „Solidarność“ erschien Beuys als ideale Realisierung seines Konzepts der „sozialen Plastik“, deren Material für ihn das menschliche Handeln und dessen Einfluss auf Funktionsweise und Gestalt der menschlichen Gemeinschaft waren.
Im August 1981 machte sich Joseph Beuys mit seiner Familie auf den Weg von Düsseldorf nach Łódź. Auf dem Dach seines Wohnmobils transportierte er in einer Holztruhe eine Schenkung in Gestalt von mehr als 700 Zeichnungen, Objekten, Dokumentationen und Archivmaterialien zu seinem bisherigen Schaffen, zu denen nach der Ankunft 13 Grafiken hinzukamen – Skizzen von der Aktion der Truhe.
Beuys nannte diese Aktion „Polentransport 1981“. Er knüpfte damit an die Geschichte des Muzeum Sztuki s in Łódź an, das seit seiner Gründung im Jahr 1930 eine enge Verbindung zur Avantgardekunst pflegte. Zum Herzstück des Hauses entwickelte sich die Internationale Sammlung Moderner Kunst der Gruppe „a.r.“, deren erster Teil dem Museum am 15. Februar 1931 offiziell übergeben worden war.
Die „a.r.“-Sammlung war eine Idee von Władysław Strzemiński, der zusammen mit seiner Frau, der Bildhauerin Katarzyna Kobro, und mit dem Maler Henryk Stażewski sowie den beiden Dichtern Jan Brzękowski und Julian Przyboś eine der interessantesten Formationen der polnischen Kunst ins Leben gerufen hatte – die Gruppe „a.r.“ („artyści rewolucyjni“ [revolutionäre Künstler] oder „awangarda rzeczywista“ [wahre Avantgarde]).
Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wuchs die Sammlung auf mehr als 100 Werke von Künstlern der internationalen Avantgarde an, darunter Jean Arp, Alexander Calder, Sonia Delaunay, Max Ernst, Fernand Léger, Pablo Picasso, Kurt Schwitters, Marcel Seuphor i Piet Mondrian, Georges Vantongerloo. Alle Werke waren Schenkungen.
Mit der klassischen Avantgarde verband Beuys die Überzeugung, dass die Kunst mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten, ihren nahezu magischen, „schamanischen“ Kräften die Heilung des von Krieg und Teilung betroffenen europäischen Kontinents fördern könne. Seine Reise nach Łódź verstand er als symbolischen Aufbruch zu einer Suche nach einem neuen Weg der sozialen Entwicklung jenseits der vom Kapitalismus erzeugten Spannungen und den starren Doktrinen des Kommunismus.
Das Polen, das Beuys besuchte, war ein von Streiks erschüttertes und im wirtschaftlichen Chaos versunkenes Land mit leeren Geschäften und mit Rationierungen von Lebensmitteln und anderen Waren, aber zugleich immer noch eine starke, von der UdSSR gestützte Diktatur.
Am 30. Juli 1981 fand in Łódź ein Marsch mit Zehntausenden Teilnehmern statt – der von der „Solidarność“ organisierte „Marsch der hungernden Frauen“. Am 18. August 1981 übergab Joseph Beuys dem Muzeum Sztuki in Łódź (Muzeum Sztuki Łódź) seinen „Polentransport 1981“. Am 13. Dezember 1981 rief General Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht aus.
Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstags von Joseph Beuys (www.beuys2021.de), des 90. Jahrestags der Schenkung der Internationalen Sammlung Moderner Kunst an das Muzeum Sztuki, Łódź durch die Gruppe „a.r.“ (15. 02.1931), des 40. Jahrestags der Verhängung des Kriegsrechts in Polen (13.12.1981) und des 30. Jahrestags der Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit (17.06.1991).